Stille Eskalation im Pazifik

In der Ukraine tobt weiterhin Wladimir Putins Angriffskrieg. Die Lage für die Menschen in dem kriegsgebeutelten Land ist weiter prekär und wird auch nach dem „Fototermin“ von Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi nicht deutlich besser. Kein „Whatever it takes“ für die Ukraine also.

Geschichte wiederholt sich

Russlands Angriff hat viele kalt erwischt, auch wenn sie ihn eigentlich hätten kommen sehen können. Und wir drohen in eine zweite Situation zu schlittern, die ähnlichen Maßstäben folgt: Ähnlich wie Russland seinen Einflussbereich erweitern will, will auch China das in Fernost tun.

arte hatte dieser Thematik bereits vor etwa vier Wochen einen ganzen Themenabend gewidmet, wohingegen der deutsche Wissenschaftler Alexander Görlach die Thematik in seinem neuen Buch aufarbeitet. Alarmstufe Rot – Wie Chinas aggressive Außenpolitik im Pazifik in einen globalen Krieg führt heißt es und ist im Mai bei Hoffmann und Campe erschienen.

Taiwan ist der Schlüssel

Gemeinsam mit seinem Partner lebte Görlach ab Mitte 2017 für ein Jahr in Taiwan, das nach seiner Einschätzung eine Schlüsselrolle bei Chinas Vormachtstreben im Pazifik und auf der globalen Bühne besitzt. Ähnlich wie in der Ukraine geht nämlich auch der potentielle Aggressor – China – davon aus, dass es nur ein China und damit auch nur ein chinesisches Volk gebe. Der Unterschied zur Ukraine besteht darin, dass auch in Taiwan hierzu lange Konsens herrschte, dieser jedoch seit einiger Zeit zu bröckeln beginnt.

Es überrascht daher nicht, dass Görlach sich in seiner sehr von eigenen Erfahrungen und Eindrücken geprägten Analyse erst intensiv mit Taiwan, dem Land und seinen Leuten beschäftigt – wir erfahren hier mehr über die Insel als in so manchem Reiseführer – und anschließend in großer Intensität China, dem dortigen politisch-unterdrückerischen Regime und den dortigen innenpolitischen Verhältnissen Raum gibt.

Innenpolitik dominiert

Vor allem die Repressionen gegen die Bürgerrechtsbewegung in Hongkong sowie die Menschenrechtslage in im von Uiguren bewohnten Landesteil Xinjiang schildert Görlach ausführlich. Und die konfuzianisch-philosophischen Grundlagen der Kommunistischen Partei, den Führerkult um Generalsekretär Xi Jinping (doku) sowie technologische und wirtschaftliche Initiativen der chinesischen Parteiführung beleuchtet Görlach sehr ausführlich.

Warum, mag sich manche Leserin oder mancher Leser fragen. Warum müssen wir uns mehr als 150 von knapp 240 Seiten mit dem Konflikt um Taiwan und der repressiven Innenpolitik Beijings beschäftigen – Themen, die es überdies bereits in so manch ausführliche und anschauliche Publikation geschafft haben? Denn in der Tat, diese Inhalte nehmen erstaunlich viel Raum in einem Buch ein, das sich laut Untertitel um die Außenpolitik dreht.

Es ist komplex…

Nun lässt sich Außenpolitik aber in der Regel als getrieben von inneren Faktoren oder den Interessen manch einer Clique von Machthabern erklären. Görlach geht in seinem Buch also stark in die konzeptionelle Tiefe, befasst sich mit der Unterscheidung zwischen Demokratie und Diktatur (und räumt nebenbei mit solch kruden Vorstellungen wie „illiberalen Demokratien“ auf – ein Gruß geht nicht nur von Görlach nach Ungarn und Polen). Das zieht sich anfangs zwar ein wenig, spielt sich aber im letzten Drittel aus, in dem er in die inhaltliche Analyse einsteigt.

Hier befasst er sich nämlich zuerst mit einer möglichen Eroberung Taiwans als erstem Schritt zu Chinas Vorherrschaft im Pazifik. Anschließend wären weitere, bereits heute von China latent bedrohte Nachbarn dran: Japan, Korea, die Philippinen. In aller Kürze – fast sogar schon ein wenig zu knapp – widmet er sich diesen Staaten und den individuellen Konflikten, die sie mit Beijing haben, bevor es schließlich um die große Schutzmacht all dieser Staaten geht: die Vereinigten Staaten.

Die USA als globaler und regionaler Hegemon haben auch hier eine Schlüsselrolle inne: Görlach arbeitet sehr schön heraus, wieso das so ist, ob die USA in einen Verteidigungskrieg für einen oder mehrere dieser Partner ziehen würden und wie dies rechtlich und humanitär gerechtfertigt werden müsste. In jedem Fall entbrennt im Pazifik gerade ein Stellvertreterkrieg um die globale Hegemonie und es ist fraglich, wer aus ihm als Gewinner hervorgehen wird. Gerade im letzten Drittel nimmt Alarmstufe Rot also deutlich an Fahrt auf und liefert uns eine gute, prägnante und informative Analyse.

Es wiederholt sich

Dennoch hätten einige Teile inhaltlich etwas gestrafft werden können. Wohlgewählte inhaltliche Wiederholungen sind ein wichtiger Bestandteil vieler Bücher, um bedeutende Inhalte herauszuheben und zu transportieren. In Alarmstufe Rot aber passiert es gleich mehrfach, dass der Autor Inhalte und ganze Passagen inhaltlich mehrfach wiedergibt.

Dass der Vatikanstaat beispielsweise das einzige europäische Land ist, der Taiwan als eigenen Staat anerkennt, ist eine spannende Information. Wir brauchen sie aber nicht dreimal innerhalb von zwanzig Seiten mit einer ausführlichen Erläuterung von teils mehr als einer halben Seite. Oder auch so manche Information zu Abhängigkeiten und neokolonialistischen Verhaltensweisen Beijings im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“ (die „Polare Seidenstraße“ wird übrigens als Ableger dieser Initiative nicht erwähnt) muss nicht zweimal erklärt werden. Hier hätten der Autor oder spätestens das Lektorat noch einen zweiten Blick auf das Manuskript werfen sollen.

LGBTIQ* als Kirsche obendrauf

Was an Alarmstufe Rot jedoch als letzter Punkt sehr positiv hervorzuheben ist: Wohl auch bedingt durch seine persönlichen Lebensumstände streut Alexander Görlach immer wieder Informationen zur Situation von LGBTIQ*-Menschen in China ein. Ob es die relative Freiheit ist, die sie in Taiwan genießen oder die hierzu im Kontrast stehende – und durch das Sozialkreditsystem zunehmend sogar sanktionierte – Unterdrückung von queeren Menschen in der Volksrepublik, hier liefert Alarmstufe Rot auch an manchen Stellen eine Perspektive auf queeres Leben in China und Taiwan, wenn auch nur als Randaspekt.

Alles in allem ist Alarmstufe Rot somit ein überaus informatives Buch, das trotz kleinerer Schwächen unseren Blick auf ein (gar nicht so) neues geopolitisches Pulverfass lenkt. Gerade der Pazifik ist für uns weit weg, gerade der Krieg in der Ukraine lässt unsere Aufmerksamkeit derzeit nicht unbedingt in die Ferne schweifen. Wir haben aber bei Russlands Attacke auf die Ukraine gesehen, wie sehr uns ein Krieg in unserer vermuteten Peripherie doch treffen und betreffen kann. Alexander Görlach gibt uns einen sehr guten Einblick in die Ambitionen Chinas, den möglichen Weg „nach oben“ und weckt dadurch gekonnt unsere Aufmerksamkeit.

HMS

Alexander Görlach: Alarmstufe Rot – Wie Chinas aggressive Außenpolitik im Pazifik in einen globalen Krieg; Mai 2022; 240 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-455-01386-3; Hoffmann und Campe; 24,00 €; auch als eBook erhältlich

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