Eine Geschichte jenseits des Images

Betonwüste, stinkender Moloch, Smog, Verbrechen und dubiose Gestalten. Wer vom Land kommt, hat Städten gegenüber oft große Vorurteile. Viele durchaus zurecht, denn auch wenn eine Jugend und ein Leben in der Stadt behütet sein können, der Lärm oder die unentrinnbare Hitze aufgeheizter Plattenbausiedlungen in prekären Stadtvierteln sind meist nicht Teil des dennoch nicht immer idyllischen Lebens auf dem Lande.

Umgekehrt ist es aber auch so, dass Städte ein Motor für Wirtschaft und Wohlstand sind. Gut, anders als die meisten Hauptstädte Europas trägt Berlin unterproportional zum deutschen Bruttoinlandsprodukt bei. Und dennoch hat es sich im vergangenen Jahrzehnt zur Startup-Metropole gemausert und besticht durch hierzulande einmalige Kreativkräfte.

Motoren der Innovation

Wo Menschen zusammenkommen, in Städten und Metropolen, wird der Fortschritt greifbar. Städte sind Motoren der Innovation und ohne Metropolen müssten wir ganz sicher auf viele Annehmlichkeiten des heutigen Lebens verzichten. Wie sehr Menschheits- und Stadtgeschichte zusammenhängen, dem geht der britische Journalist und Autor Ben Wilson in seinem Buch Metropolen – Die Weltgeschichte der Menschheit in den Städten nach, das in der Übersetzung von Irmengard Gabler bereits 2022 bei S. Fischer erschienen ist. 

Städte halten so vieles für uns bereit, das wir heute als selbstverständlich erachten, sich aber doch erst über Jahrhunderte und Jahrtausende entwickeln musste. Wie es der Untertitel verrät, nimmt uns Wilson mit auf eine Reise durch rund sechs Jahrtausende Menschheitsgeschichte und betrachtet dabei, wie das Leben in Städten und Ballungsräumen das menschliche Zusammenleben prägte und entwickelte.

Baden, futtern, trinken

Von der Badekultur der alten Römer über emsige Städte der Hanse, die ihren Handel durch Krieg und Gewalt zu schützen und auszubauen suchten, von sexuellen Eskapaden aller Art im biblischen Babylon über erste Börsengeschäfte in Amsterdam und die sich in London und anderen britischen Städten entwickelnde Pubkultur oder die gastronomischen Verführungen, die Wilson mit dem frühzeitlichen Bagdad verknüpft, ist alles dabei, was wir an Annehmlichkeiten im urbanen Leben haben. 

Allerdings behandelt er auch dunkle und schaurige Themen: Anhand von Warschau und Stalingrad im Zweiten Weltkrieg zeigt er uns, wie eine Stadt ausgelöscht werden kann, im Chicago und Manchester der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden wir mit der hässlichen und dreckigen Fratze des Kapitalismus konfrontiert und das Nachkriegs-Los Angeles dient als Beispiel für intendierte Zersiedelung und massiven Flächenverbrauch.

Zerstören, kolonisieren, erfinden

Die leicht überlappenden Phasen, die Wilson in 14 Kapiteln unterschiedet, macht er in der Regel an ein bis zwei, einmal sogar vier Städten exemplarisch fest, ohne jedoch zu sehr auf diese fokussiert zu sein. New York steht beispielsweise für einen rapiden Zivilisationsschub und die neuen Wolkenkratzer Anfang des 20. Jahrhunderts. Warschau ist bekanntermaßen nicht die einzige Stadt, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Den wenig schmeichelhaften Titel „Meistzerstörte Stadt des 20. Jahrhunderts“ trägt laut einem UN-Bericht ohnehin das tschetschenische Grosny, aber das mal nur am Rande.

All dies reichert er mit historischen Fakten an, der Entwicklung demokratischer Prinzipien in Athen, der „Entdeckung“ und Kolonisierung Amerikas oder auch einem kleinen Exkurs, wie(so) sich das Silicon Valley zum Zentrum globaler Innovationskraft entwickelt hat. Klug gesetzte Querverweise zwischen den Kapiteln und ein abschließend zusammenfassendes Kapitel („Megacity“ am Beispiel der nigerianischen Metropole Lagos) runden dieses Gesamtbild ab.

Eine Ikonografie des städtischen Lebens

Auf mehr als 500 Seiten widmet sich Ben Wilson also unserem Leben in den Städten und wie es die Menschheit in den vergangenen Jahrtausenden prägte. Er greift hierfür auf vielerlei Quellen zurück: Archivmaterial, Studien, literarische Überlieferungen oder gerade in jüngerer Zeit auch auf Filmmaterial. Die zahlreichen kulturellen Verweise und Referenzen zeigen, wie sehr sich Wilson in seine Recherche gekniet hat und uns diese hier als umfangreiches und informatives Gesamtprodukt präsentiert. 

Er handelt dabei unglaublich viele Lebensbereiche ab, die uns als Vorzüge oder Nachteile der Stadt oft vielleicht gar nicht so bewusst sein mögen. Ob es das reiche gastronomische Angebot ist, die sexuellen Eskapaden, die hier vermeintlich leichter möglich sind als auf dem Land oder das reiche kulturelle Leben, Wilson zeichnet eine kleine Ikonografie dessen, was das Leben in den Städten dieser Welt ausmacht. Dankenswerterweise verzichtet er auch darauf, Stadt und Land gegeneinander auszuspielen.

Der Westen im Fokus

Das heißt aber nicht, dass Metropolen nicht auch Lücken hat. Das Paris-Kapitel beispielsweise hat mich nur wenig gefesselt und dass chinesische Städte nur sehr am Rande auftauchen, ist etwas bedauerlich. Klar, irgendwie musste sich der Autor beschränken und da auch Afrika lediglich mit der Megastadt Lagos in größerem Ausmaß auftaucht (sehen wir einmal von Alexandria vor unserer Zeitrechnung ab), ist es auf jeden Fall spannend, dass er eine solche Boomtown aufnimmt.

Afrika, Lateinamerika, China und das heutige Japan sind dennoch erstaunlich wenig präsent – zumindest wenn es über den westlichen Kolonialismus hinausgeht. Angesichts des bereits ersichtlichen oder erwartbaren Bevölkerungswachstums in diesen Regionen dürften in den kommenden Jahren jedoch gerade dort wesentliche Entwicklungen ihren Lauf nehmen.

Stadt am Fluss

Daneben gibt es auch thematisch ein paar Punkte, die vielleicht ein wenig angerissen werden, aber dennoch nicht in aller Ausführlichkeit behandelt werden. Dass Städte häufig an größeren Flüssen liegen, überwiegend der Wasserversorgung und des Handels wegen, ist eigentlich banal, aber dennoch ein Merkmal, das Wilson, wenn überhaupt, eher als Randnotiz behandelt – wie überhaupt den Faktor Geografie. 

Hierunter fällt übrigens auch in vielen Punkten das, was eben noch als Vorteil galt: der Gegensatz zum Land (oder auch zum Strand und somit Meer). Hier arbeitet er Unterschiede und Wechselwirkungen leider nur rudimentär heraus, was bei der Schwerpunktsetzung seines Buches zwar nachvollziehbar ist, aber dennoch eine Lücke klaffen lässt.

Magneten für Menschen

Trotz dieser vermutlich verschmerzbaren Lücken ist Ben Wilsons Metropolen ein überaus spannendes und informatives Buch, das sich sehr gut sowohl am Stück als auch in Etappen lesen lässt. Auch wenn der Untertitel vermessen erscheint: Wilson präsentiert uns tatsächlich eine sehr anregende Geschichte der Menschheit in Städten. Und überhaupt schien für mich lange nicht vorstellbar, dass das Thema Stadtentwicklung doch irgendwie sexy sein kann. Ben Wilson hat mich vom spannenden Gegenteil überzeugt.

Städte mögen also Moloche sein, aber sie können auch grün und heimelig sein. Sie sind Orte der Begegnung und des Fortschritts. Und allein deshalb sind sie offenbar auch in Zeiten von Homeoffice und Post-Covid Magneten für viele Menschen.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Ben Wilson: Metropolen. Die Weltgeschichte der Menschheit in den Städten; August 2022; Aus dem Englischen von Irmengard Gabler; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; 592 Seiten; ISBN 978-3-10-397370-9; S. Fischer Verlage; 34,00 €

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