Kulturwandel dank Klimawandel

Klimakrise, Klimakatastrophe, Klimaapokalypse – die Steigerung kennt kaum noch Grenzen. Manchen mag das übertrieben scheinen, anderen kann es nicht dramatisch genug gehen. Schmelzende Polkappen und langsam steigende Wasserspiegel sehen wir eben nicht bloßen Auges. Aber der dritte Dürresommer in Folge und Katastrophen wie die Flut im Ahrtal sollten uns doch zu denken geben.

Dass wir für den Klimawandel nicht ausreichend gerüstet sind, ist also offenkundig. Nur verschließen wir die Augen davor, selbst wenn Anpassung mehr als nötig wäre und manch ein Appell mehr oder minder folgenlos verhallt. Wie verwundbar wir sind und wie konsequent wir es vermeiden, uns gegen den Klimawandel zu rüsten, beschreiben die beiden Journalistinnen Susanne Götze und Annika Joeres in ihrem neuen Buch Klima außer Kontrolle – Fluten, Stürme, Hitze – Wie sich Deutschland schützen muss. Das Buch ist bei Piper erschienen und für den NDR-Sachbuchpreis 2022 nominiert.

Wasser, Feuer, Wälder

In neun Kapiteln zuzüglich Einleitung, Ausblick und einem äußerst knappen Vorwort der bekannten Forscherin Maja Göpel (oder ihres Ghostwriters) erläutern die beiden Damen schonungslos, vor welchen Herausforderungen Deutschland und seine Bevölkerung angesichts der klimatischen Veränderungen stehen und dass weder Infrastruktur noch gesellschaftliches Bewusstsein dies in der Realität abbilden können. Wasser bedroht uns in Form von anschwellenden Flüssen oder Meeren, die unsere Küsten überfluten. Gleichzeitig müssen wir uns gegen Dürren wappnen und unsere Land- und Forstwirtschaft von kurzlebigen Hochleistungsäckern mit Monokulturen auf wechselnde und diverse Bepflanzungen inklusive schonender Bodennutzung umstellen.

Moore können als CO2-Senken dienen. Heute gasen sie teils immer noch eher aus und dienen eher Quelle für Treibhausemissionen. Und dass der Berg nicht mehr ruft, sondern ungewollt zu uns kommt, weil der Permafrost verschwindet und ganze Geröllmassen instabil werden, ist eine weitere besorgliche Wahrheit, die Götze und Joeres aufdecken. Fehlen eigentlich nur Tornados, Tsunamis, Erdbeben und Meteoritenhagel, aber die haben – bis auf Tornados – auch kaum etwas mit dem Klimawandel zu tun.

Kultivierte Landschaft

Kulturlandschaft ist beispielsweise ein Wort, das so deutsch ist wie Doppelhaushälfte. Wir sind stolz auf unsere Kulturlandschaften, verbinden das vielleicht ein wenig mit dem Begriff der „Hoch-“ oder „Leitkultur“. Aber vielleicht sollten wir den Begriff eher als Unwort sehen. Der Mensch hat durch seine Eingriffe in die Natur diese Art Landschaft geschaffen, begradigte Flüsse statt naturbelassener Auen, Felder und Äcker statt Wiesen und Wälder, die eher Plantagen für Bau- oder Brennmaterial ähneln als einem wilden Zusammenwurf an Pflanzen und Tieren. Von Städten und Ballungsräumen gar nicht zu schweigen.

Wir Menschen haben unsere Umwelt „kultiviert“, also ihr unseren Stempel aufgedrückt. Das führt zu Bauten in Überschwemmungsgebieten, in enge Betten gezwängte Flüsse oder de facto toten Monokulturflächen in der Landwirtschaft, die für Insekten, Vögel, Amphibien und andere Organismen keinen Lebensraum mehr bieten. Das hat uns lange genützt, wie die letzten Jahrzehnte des Wohlstands gezeigt haben, aber vor den schlechten und gefährlichen Nebenwirkungen haben wir bislang die Augen verschlossen.

Volkssport Wegsehen

Susanne Götze und Annika Joeres holen dies nun nach, öffnen uns mit ihrem aktuellen Buch die Augen. Es sind Politikerinnen und Politiker, die (wieder)gewählt werden wollen, Interessengruppen, die die – oft legitimen – Interessen ihrer jeweiligen Lobby vertreten – mit oft nur wenig Interesse für die Belange anderer Gruppen. Es sind aber auch wir alle selbst, die wir die Nebeneffekte menschlicher Eingriffe in die Natur ausblenden, Risiken ignorieren und davon ausgehen, dass „es schon gut gehen wird“. Wenn es mal nicht gut geht – wie letztes Jahr im Ahrtal – dann wiederum sind wir schockiert und mit dem Kurieren der Effekte beschäftigt, anstatt dass wir unser eigenes Verhalten und Wahrscheinlichkeiten hinterfragen.

Wie fahrlässig wir handeln, legen die beiden Autorinnen schonungslos offen. Das ist unbequem, aber das wird es vermutlich sowieso, wenn wir nicht jetzt handeln. Denn auch in der Vorsorge sind wir alles andere als vorbildlich. Bund, Länder und Kommunen versäumen es mit jedem Tag – von löblichen Ausnahmen abgesehen – Vorsorge zu treffen, den Klimawandel in ihre Politik und allgemeinen Initiativen einzubeziehen. Dabei sind die Auswirkungen bekanntermaßen bereits heute vielfach sichtbar.

Auf der Suche nach Kulturwandel

So gibt es wirklich kaum etwas, was an Klima außer Kontrolle zu kritisieren wäre, am ehesten noch, dass sie (selbstverständlich anlassgemäß) sehr fokussiert auf die Klimakatastrophe sind, den Verlust der Biodiversität als verwandtes Thema aber nur relativ peripher anschneiden. Wie bereits im ersten Buch der beiden Journalistinnen, Die Klimaschmutzlobby, auf das sie regelmäßig und unaufgeregt verweisen, bekommen vor allem viele Lobbygruppen eine Art „Spiegel der Schande“ vorgehalten, aber in diesem Fall geschieht das oft sehr zurecht. Vielfach verhindern sie die Anpassung von Infrastruktur und Denkmustern, um kurzfristige Interessen ihrer Mitglieder durchzusetzen.

Und doch sind es nicht nur sie, die ihr Fett wegbekommen: Auch die uneinsichtigen Menschen – und dazu dürften wir fast alle zählen – werden für ihr Wegsehen und Nichthandeln kritisiert. Vielfach müssen wir der Natur einfach mehr Raum geben, uns einschränken und verzichten – auf Konsum, Hausbau, individuelle motorisierte Mobilität. Klima außer Kontrolle von Susanne Götze und Annika Joeres ist ein Buch, das uns aufrütteln kann und soll. In der Debatte um den Klimawandel könnte es daher ein Schlüsselwerk für ein größeres Publikum sein.

Es steht zu hoffen, dass die Rezeption sowie die anschließende Wirkung und kollektive Verhaltensänderung maximal sind. Nicht weniger als ein umfassender Kulturwandel wird vonnöten sein, um mit den Effekten des Klimawandels möglichst souverän umgehen zu können.

HMS

Addendum, 3. November 2022, 21:07 Uhr

Soeben wurden Susanne Götze und Annika Joeres für das hier besprochene Buch mit dem NDR-Sachbuchpreis ausgezeichnet (auf der Longlist fanden sich auch u. a.  Tupoka Ogette mit Und jetzt Du. sowie Stefan Creuzberger mit Das deutsch-russische Jahrhundert). Die NDR-Programmdirektorin und Jury-Vorsitzende Katja Marx übergab die mit 15.000 Euro dotierte Auszeichnung im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes auf dem Campus des Göttinger Biotech-Unternehmens Sartorius. Die Jurybegründung: 

„Dieses Buch wird mit jedem Tag seit seinem Erscheinen relevanter. Es kombiniert ein immenses Fachwissen mit aufwändigen Recherchen quer durch das Land. Das Buch verknüpft wissenschaftliche Analysen zum Klimawandel mit dessen spürbaren Folgen. Es zeigt auf, wie unzureichend wir uns an die uns umgebende Veränderung anpassen und es benennt konkrete Lösungswege. Susanne Götze und Annika Joeres vermitteln ebenso verständlich wie stilistisch eindrucksstark fundierte Grundlagen zur Klimakrise und unseren Umgang mit ihr.“

Susanne Götze, Annika Joeres: Klima außer Kontrolle. Fluten, Stürme, Hitze – Wie sich Deutschland schützen muss; Juli 2022; Klappenbroschur; 336 Seiten; ISBN: 978-3-492-06336-4; Piper Verlag; 20,00 €

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