Abstrakte Wildnis

Als vor wenigen Jahren vor den Toren Berlins die Tesla Gigafactory errichtet werden sollte, mussten dafür ein Wald und ein paar Ameisenhaufen weichen. Der Aufschrei wegen der Bäume war groß, aber ein paar Ameisenhaufen, mein Gott, wen interessiert’s? Dabei ist gerade das ein Irrtum: Bei den Ameisen handelte es sich um ein halbwegs intaktes Ökosystem oder vielmehr einem Teil davon. Der Wald hingegen war „nur“ eine verhältnismäßig öde Plantage in Monokultur. Eine Art grüne Wüste, die uns Leben und Wildnis vorgaukelt.

Die Frage, die damit verbunden ist, lautet: Was ist Wildnis? Was ist vor allem nicht irgendeine menschengemachte Pseudowildnis à la Wirtschaftswald, wie wir sie uns ganz romantisch vorstellen, sondern was ist tatsächlich unberührte Natur? Dieser Frage geht der Biologe, Natur- und Wildfilmer und in diesem Fall Autor Jan Haft in seinem kurzen Buch Wildnis – Unser Traum von unberührter Natur nach, das im März 2023 bei Penguin erschienen und in der Kategorie Überraschung als Wissensbuch des Jahres nominiert ist.

Was ist wahre Wildnis?

Im Prinzip handelt es sich bei diesem Buch um einen langen Essay, den Haft dafür nutzt, in einer konzisen Argumentation so manche Fragen zum Thema „Wildnis“ zu beantworten, von denen sie gar nicht wussten, dass die Leserinnen und Leser sie sich stellen könnten oder vielmehr sollten. Wie das Zusammenspiel zwischen Flora und Fauna in einer bestimmten Region beispielsweise ist oder vielmehr sein sollte, um wirklich nachhaltig zu sein. Was menschliche Eingriffe zum Beispiel durch Beweidung von Wiesen für einen Nutzen haben – welchen Schaden sie aber auch anrichten kann, wenn die falsche Art oder eine falsche Zahl von Tieren hierfür genutzt wird.

Oder wie unsere europäische Wildnis vor (Zehn-)Tausenden Jahren wohl ausgesehen haben mag. Denn wir kennen heute natürlich nur die Kulturlandschaften, die unsere Vorfahren für uns geschaffen haben: Siedlungen und Städte, bereinigte Fluren, trockengelegte Moore und Wald, der zumeist eher wirtschaftlichen Kriterien gehorcht, als dass er wirklich wild wäre. Die meisten bereinigten Felder dienen dem Anbau irgendeines (für unsere Gesellschaft selbstverständlich) essenziellen Getreides oder Gemüses, aber wirklich naturnah ist das ganz gewiss nicht.

Nachdenken über Landnutzung

Nein, der Mensch hat die Wildnis in Europa und vielen anderen Gegenden in den letzten Jahrhunderten geformt und von der „echten“ Wildnis ist kaum etwas übrig. Umso spannender ist die Frage, wie denn Wildnis eigentlich aussieht, denn wir können sie ja draußen nicht oder zumindest kaum mehr sehen. Allein dass Jan Haft diesen Gedanken aufwirft und uns zum Nachdenken anregt, ist grandios und doch so einfach. Wie er ihn mit argumentativer Präzision und guter Recherche weiterverfolgt und uns daran teilhaben lässt, ist überaus lesenswert und erhellend.

Jan Haft // © Jan Haft

Gerade die Landwirtschaft war in den letzten Jahrhunderten im wahrsten Sinne prägend für unsere Natur. Auch wenn der Wald als das Allheilmittel im Kampf gegen die Klimakrise gesehen wird, eigentlich ist es – so wir Hafts Ausführungen folgen mögen – gerade eine ausgewogene und gezielte Land- und Forstwirtschaft, die der Schlüssel zur Lösung dieses Problems sein kann. Ja, Bäume speichern Kohlendioxid, aber das tun sie nur so lange – und das wird oft vergessen – bis sie gefällt werden und ihr Holz genutzt wird.

Kohlenstoff versenken

Der Boden ist jedoch eine viel effizientere Kohlenstoffsenke (Moor und Meer übrigens auch – nicht zuletzt deshalb erwärmt sich letzteres so rasant) und Bäume speichern verhältnismäßig wenig Kohlendioxid in den Boden. Das ist bei einer ökologischen und passgenauen Landwirtschaft ganz anders.

Gerade die großen Pflanzenfresser – heute vor allem Kühe, früher in unseren Breiten auch verschiedenes Großwild oder gar Elefanten und Mammuts – haben durch ihre Existenz und ihre Bewirtschaftung des Bodens ebenfalls dazu beigetragen. Haft lebt dies auf seinem Hof im Münchener Umland vor, aber die heute so übliche Stallhaltung von Großvieh ist genau das Gegenteil von Wildnis. Und selbst Mistkäfer oder andere Insekten spielen in diesem Ökosystem eine wichtige Rolle.

Konsequent und nachvollziehbar

Das klingt an dieser Stelle sehr abstrakt, aber Jan Haft schafft es, diese Gedanken konsequent und nachvollziehbar aufzubereiten. Langsam und stetig verfolgt er – so viel ist nach der Lektüre klar – seine Argumentationskette. An manchen Stellen greift er dabei gut auf zuvor Erwähntes zurück, andere Punkte hingegen bleiben Randaspekte oder scheinen nicht mehr so sehr stattzufinden. Das ist in Ordnung, fokussiert er sich doch recht vehement auf sein Hauptargument.

Das wird dadurch verstärkt, dass er selbst auf seinem Hof bei München nach diesem Prinzip lebt und vor allem illustriert, wie die großen Pflanzenfresser bei ihm zur Wiederherstellung eines kleinen wilden Mikrokosmos beitragen. Das ist sehr löblich und frei nach dem Prinzip „Tue Gutes und rede darüber“ ist das auch konsequent.

Wassermangel

Eine Kritik kann sich aber dennoch nicht beiseite wischen lassen: Jan Haft fokussiert sich fast ausschließlich auf die Wildnis der irdischen Landmassen. Das Meer und die Ozeane sind jedoch auch Lebensräume und auch hier gestaltet der Mensch mit. Ob es lange Zeit das Verklappen von radioaktivem Müll in den Ozeanen war, die Fischerei mit Treibnetzen, die Elbvertiefung oder die Begradigung von Flüssen für die Nutzung durch den Menschen, den Lebensraum Wasser spart Jan Haft komplett aus.

Das gilt nicht nur für Meere und Ozeane, sondern in großen Teilen auch für Flüsse und Seen, also die Gewässer, die uns auch jenseits der Küste nahe sind. Jenseits weniger Passagen zu Tümpeln, in denen sich einige Tiere suhlen oder die für bestimmte Insektenarten einen Lebensraum bieten, stellt Jan Haft diese Zusammenhänge kaum her.

Was wir ändern müssen

Davon abgesehen aber ist Wildnis ein überaus lehrreiches Buch, das zumindest mich dazu gebracht hat, mein Verständnis dieses abstrakten Begriffs stark zu reflektieren. Jan Haft liefert uns hier eine sehr zielstrebige und in großen Teilen überzeugende Argumentation, wieso wir unser Verhalten ändern müssen, wenn wir die Wildnis bewahren oder vielmehr wieder herstellen wollen.

Der Autor Markus Bennemann, dessen Buch Böse Bäume wir kürzlich besprochen haben, hat uns bereits gezeigt, dass Bäume nicht immer so gut sind, wie wir das dachten (ein Buch, das in der Kombination mit Wildnis übrigens eine noch anregendere Lektüre darstellt als ohnehin.) Auch sie haben sich in der Evolution durchzusetzen und hier gilt das knallharte Prinzip des „Survival of the fittest“. Der Mensch hat irgendwann angefangen, seine vermeintliche Überlegenheit gegenüber der Natur auszuspielen. Dass wir jedoch manche Entwicklungen und Verhaltensweisen überdenken sollten, um in unserem eigenen Interesse ein wenig Wildnis zuzulassen, wird bei der Lektüre von Wildnis mehr als klar.

Wildnis von Jan Haft

Wildnis ist in der Kategorie „Überraschung“ als Wissensbuch des Jahres 2023 nominiert. Der Preis wird in diesem Jahr bereits zum 30. Mal vom Magazin bild der wissenschaft verliehen. Eine Übersicht aller Nominierten sowie zur Jury und weitere Infos findet ihr auf dem feinen Sachbuch-Blog Elementares Lesen von Petra Wiemann; das Ergebnis wird am 17. November 2023 im Dezember-Heft von bild der wissenschaft sowie auf wissenschaft.de bekannt gegeben.

Jan Haft: Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur; März 2023; Pappband, gebunden; 144 Seiten; ISBN 978-3-328-60273-6; Penguin Verlag; 18,00 €

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