Familiennarben

Europa sah nach dem Zweiten Weltkrieg anders aus als zuvor. Das ist eine Binse, aber dennoch steht sie sinnbildlich dafür, wie sich auch die Gesellschaft durch den Krieg veränderte, bis hin zu vielen oder fast allen Familien. Die Geschichte ihrer Familie hat die österreichische Autorin Ljuba Arnautović in ihrem neuen im Paul Zsolnay Verlag erschienenen Roman Junischnee sehr eingängig festgehalten.

Jugend in der Sowjetunion

Österreich, 1934: Die Kommunistin Eva schickt ihre beiden Kinder Karl und Slavko als „Schutzbundkinder“ nach Moskau, wo sie für mehrere Jahre in einem Kinderheim in für damalige Verhältnisse relativem Luxus betreut werden. Als das Heim eines Tages geschlossen wird, stehen die Kinder vor ihrem neuen Leben. Slavko muss einen Job annehmen, Karl schlägt sich erst einmal so durch. Nachdem ihn der Geheimdienst NKWD nach einiger Zeit aufgreift, kommt er in ein Arbeitslager im Osten, wo er seine spätere Frau Nina kennenlernt.

Nach seiner Entlassung zehn Jahre später gründet Karl mit ihr eine Familie, sucht Kontakt zur Mutter in Wien und siedelt nach einem Kampf gegen die zwischenstaatliche Bürokratie im Kalten Krieg mit seiner Familie – Tochter Ljuba wurde mittlerweile geboren – dorthin über. Er hofft dort sein Glück zu finden – seine Frau Nina jedenfalls findet es nicht. Und so entspinnt sich die weitere Geschichte einer Familie, die durch den Krieg zerrissener ist als sie denkt und mit den erlittenen Narben leben lernen muss.

Eine Familie und der Krieg

Junischnee arbeitet also gleichzeitig heraus, was die Familie um Karl Arnautović einst trennte und wie sie zumindest ein Stück weit (wieder) zusammenfand. Von der drohenden Gefahr durch Nazi-Deutschland und der Verfolgung der Kommunisten in Österreich und Mitteleuropa über die Vorkriegszeit in der Sowjetunion und den stalinistischen Terror des NKWD bis hin zu den frühen Jahren des Kalten Kriegs bettet die Autorin die Geschichte ihrer eigenen Familie in den zeithistorischen Kontext ein.

Das ist wichtig und wertvoll. Das Schicksal der „Schutzbundkinder“ ist bei vielen Menschen hierzulande nicht präsent, aber doch ein wichtiger Teil der gesellschaftlichen Geschichte in Österreich und darüber hinaus. Verschleppung und Vertreibung, Unrecht und Willkür waren für viele Menschen in Europa dramatisch. Nur wenige hatten Freiheiten ähnlich wie wir sie heute kennen und eine Reihe von Personen hatte nicht die Chancen, die sie sich gewünscht hätten. Auch wenn Junischnee keine großen Gräuel und Massaker behandelt, erzählt das Buch dennoch eine Geschichte von Terror und Totalitarismus, die das Leben von weit mehr Menschen als nur Arnautovićs Familie bestimmte.

A brief story

Spannend ist vor allem, dass die Geschichte trotz des geringen Umfangs von nur 189 Seiten so viele Facetten abbildet und auch für die Handlung weniger wichtige Charaktere gut beschreibt und zumindest einen Hinweis auf ihr Schicksal gibt. Ob es Großmutter Anastasia ist, Erika, die Freundin des verschollenen Slavko, oder der ukrainische „Mitbewohner“ Ninas in Wien, Ljuba Arnautović gibt auch hier stets einen kurzen Kontext und rundet so ihre Erzählung ab. Ihre eigene Figur und die ihrer Schwester spart sie inhaltlich wiederum weitestgehend aus und vermeidet dadurch eine hohe emotionale Befangenheit. Im Gegenteil, sie erzählt ihre gesamte Geschichte so nüchtern und emotional distanziert wie möglich und zugleich alles andere als emotionslos.

Überaus charmant ist vor allem der Mittelteil der Geschichte, in dem Karl mit seiner Mutter Eva aus der Sowjetunion in Briefkontakt steht. Ähnlich wie bei Thea Dorns Trost entspinnt sich hier ein Abschnitt als Briefroman, allerdings nur seitens Karl – Evas Antworten bekommen wir nicht zu lesen. Es wäre spannend zu wissen, ob dieser Briefwechsel tatsächlich so stattfand – auf jeden Fall bewegt es die Leserinnen und Leser sehr, wie Karl, gezeichnet vom Gulag, versucht sein altes Leben und seine alte Familie wieder aufleben zu lassen und teils daran auch scheitert.

Vom Mut zur Öffentlichkeit

Bei alldem ist Junischnee ein wunderbar geschriebener Roman, fast eine Autofiktion, wie die des Journalisten Alem Grabovac, der in seinem im Januar erschienenen Buch Das achte Kind seine Jugend in einer Pflegefamilie aufarbeitet. Ljuba Arnautović beschreibt zugleich bedrückend und befreiend, wie ihre Familie zu dem wurde, was sie heute ist. Wie sie den Terror des aufziehenden Zweiten Weltkriegs sowie des noch jungen Kalten Kriegs erlebte und darunter litt. Und wie vermutlich viele weitere Familien in ganz Europa von den Ereignissen überrollt wurden.

Knapp 100 Jahre nach der Gründung der Sowjetunion ist Junischnee somit ein wertvolles Stück Aufarbeitungsgeschichte und der Mut, mit dem die Autorin die Geschichte ihrer Familie in die Öffentlichkeit bringt, verdient höchsten Respekt. Der Zweite Weltkrieg hat vor Grenzen nicht Halt gemacht und Millionen Unschuldige hineingezogen. Junischnee behandelt vielleicht nur einen kleinen Ausschnitt der Folgen des Kriegs, aber die Geschichte steht sinnbildlich für so viel Leid, dass es auf jeden Fall wert ist, auch weit über die Grenzen Österreichs hinaus gelesen zu werden.

HMS

Eine Leseprobe findet ihr hier (unter „Leseproben“)

Ljuba Arnautović: Junischnee; 1. Auflage, Februar 2021; 192 Seiten, Hardcover, mit Schutzumschlag, #ohnefolie; ISBN: 978-3-552-07224-4; Paul Zsolnay Verlag; 22,00 €

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